Berhard Flemes, Hannoverscher Kurier, Beilage, 18.02.1934

Die Süntelbuche

Deutschlands seltsamster Baum

Der Baum, von dem hier erzählt werden soll, ist keine Zufallserscheinung, keine einmalige merkwürdige Verzerrung, er ist ein in sich geschlossenes Gebilde, das aus dem Gesetz seines Wesens entstanden ist, er ist eines der wenigen letzten Exemplare einer nahezu ausgestorbenen Buchenart. Man nennt ihn Süntelbuche, weil der Süntel seine Heimat ist.

Auf der Waldhochebene des Süntels liegt nördlich gegenüber dem felsigen Hohensteingebiet das Dachtelfeld, jene einsame Waldgegend, auf der die Sachsen ein starkes Frankenheer Karls des Großen vernichtet haben sollen. Der Bach, der am Rande des Dachtelfeldes entspringt, heißt noch jetzt der Blutbach, und das Tal, das er durchfließt, das Totental. In den Steilwänden und Felskanzeln, die von dem Muschelkalkplateau steil in die Waldschluchten stürzen, wächst die dunkle Eibe, die Felsenbirne, die Mispel und auf Fels- und Waldboden manches andere seltene Kraut. Der ganze Waldbezirk dieser kraftvollen niedersächsischen Felslandschaft steht darum unter Naturschutz. Die Süntelbuchen - es gibt auf dem Dachtelfelde noch ein gutes halbes Dutzend davon - sind in die einsamen Waldgegenden zurückgewichen. Die vollkommendste ihrer Art wächst dicht an der Grenze von Wald und Feld nahe dem abseitigen Dörfchen Rahden.


Da steht sie, respektvoll von dunklen Fichten und Waldbusch umgeben, wie ein riesenhafter Baumpilz. Der Stamm ist kurz und dick. Es gehören mindestens vier Männer dazu, wenn sie ihn umspannen wollen. Die Höhe beträgt vielleicht 10 - 12 Meter, und sie erscheint gering gegenüber dem Durchmesser des Stammes. Alles an ihm ist außergewöhnlich. Der dicke Stamm bricht wie ein graugrüner Drachenleib aus dem Waldboden, er windet sich in leichter Schräge kurz hoch, teilt sich in ungeheuer aufschwingende Äste und Zweige, nach oben, nach den Seiten, und jeder Ast, jeder Zweig dreht sich neben seiner auf und nieder schlängelnden Bewegung auch noch unregelmäßig um seine eigene Achse.

Es ist, als sei dieser Baumwuchs in ständigem Hader mit sich selbst groß geworden, als habe er in dauernder Entzweiung mit sich gelebt, nach ewiger Veränderung getrachtet. Aber das schirmartig ausgebreitete Dach der Zweige ist eine Erscheinung voll wundervoller Harmonie. Das steigt hoch hinauf, ein wohl meterdick übereinander fließendes Gewirr von Zweigen, und senkt sich ringsum gleichmäßig zum Erdboden nieder, eine dunkle Höhlung unter sich bildend. Man kann nicht ohne sich zu bücken in diese Wölbung gelangen.

Welches Wachstumsgesetzt ließ diesen Baum in seiner Einzigartigkeit entstehen? Forstleute und Naturforscher erklären ihren Sonderwuchs durch Knospenmutation, die sich vererbt hat. Während nämlich bei der gemeinen Rotbuche nur eine Endknospe an der Zweigspitze wächst, die nächste aber schon eine Spanne tiefer, stehen hier meist zwei Endknospen dicht zusammen. Nun ist zu denken, daß die stärkste Knospe den neuen Trieb bildet, durch die Nachbarin aber von ihrer geraden Richtung abgedrängt wird. Dadurch wäre die schlängelnde Bewegung zu erklären. Aber das eigentliche Geheimnis bleibt noch ungelöst. Warum drehen sich Stamm und Äste auch um die eigene Achse?Warum senken sich alle Zweige gleichmäßig und in der Form eines Schirmes wieder der Erde zu? Warum erreicht dies im einzelnen so verknorzte Waldgewächs solche vollkommene Harmonie der Gesamterscheinung? Das liegt eben im Gesetz der besonderen Art, zu dem wohl noch niemand vorgedrungen ist. Um eine besondere Art handelt es sich, denn aus den Samen, die wie die Eckern der Rotbuche aussehen, wachsen wieder die gleichen Gebilde. Sie wachsen sehr langsam. Ich habe einen aus Samen gezogenen Jungbaum gekannt, der etwa anderthalb Meter hoch und nach der zuverlässigen Bekundung eines Forstmannes nahezu 70 Jahre alt, dessen Stamm aber nur wenige Zentimeter dick war. Nach alten Chroniken aus dem Süntel benachbarten Dörfern sollen diese Süntelbuchen noch vor zweihundert Jahren auf dem Dachtelfelde häufig gewesen sein. Man hat sie ausgerottet, weil sie kein Nutzholz bringen und selbst zu Brennholz kaum zu gebrauchen sind, denn sie ließen sich wegen der Windungen schwer spalten. Es gibt hier und da in der Gegend noch einige Exemplare - am Deister, im Nenndorfer Badepark, im Garten der Oberförsterei zu Lauenau, an der Parkmauer des Renaissanceschlosses Schwöbber -, das ist alles. Es ist wohl sicher, daß alle diese Bäume in ihrer Jugend an ihren jetzigen Standort verpflanzt worden sind.


Sieht es nicht aus, als habe sich dieser Baum durch seinen Eigenwuchs dem Nützlichkeitsprinzip der Forstwirtschaft entzogen? Als habe er ein letztes Stück deutschen Urwuchses in unsere Zeit gerettet? Wer zu ihm kommt und ihn nur als Seltsamkeit betrachtet, dem wird vom tiefen Wesen dieses Baumes nichts offenbar: Er ist mehr als ein pflanzliches Überbleibsel aus vergangener Zeit, er ist ein uriges Gewächs, das im Forst steht - fremd und in sich verschlossen, von dämmernder Vergangenheit erfüllt. Dieser Baum wird zum Symbol eines Volkes, das aus der Vielfältigkeit der Individuen zum einheitlichen Volksganzen frei und kühn zusammenwächst, wenn ein entschlossener Werdewille die Triebkraft ist. Welcher Deutsche dächte beim Anblick dieses Baumes nicht an sein Volk, dem es bei der deutschen Veranlagung zum Eigenbrötlerischen, zum Verspinnen und Verwirren ewiger Sehsuchtstraum geworden ist, zur Einheit zusammenzuwachsen - ein Wunschtraum, dersich erst in unseren Tagen erfüllt hat.

Da kommen die Wanderer, staunen den Baum an, schätzen sein Alter, fragen die Forstleute darum - keiner weiß es. Es scheint, als entzöge er sich auch solcher Schätzung. Man denkt an 300, 400, 500 Jahre. Aber der Baum wächst langsam. Es soll früher einen Pflanzgarten gegeben haben, in dem junge Stämme wuchsen, um deren Alter man Bescheid gewußt hat. Dieser Pflanzgarten ist nicht mehr da. In dem Winkel einer großen und schönen Waldwiese findet sich, scheu und geduckt, ein versprengtes Rudel kleiner Süntelbuchen. Jahrzehnte kommen und gehen. Man spürt keinen Zuwachs an ihnen. Wie sollte man ihn an dem alten Waldknorz bei Rahden erkennen! Er ist eben uralt, er wäre uralt, auch wenn man sein Alter wüßte. Seine Magie raunt aus ihm folgendermaßen: In einer Zeit, die uns vom Dämmer des Anbeginns umsponnen ist, lag auf dem Dachtelfelde der Ur-Riese. Er war ein unendlich langer, urgewaltiger Kerl. Lang und schwer lag er auf dem Dachtelfelde, viel tausend Jahre, war da und sann aus den Dunkelheiten seines Wesens ins Helle. Was er sann - wer kann es wissen! Die Wälder vergingen um ihn herum und wuchsen wieder neu. Von der eigenen Schwere sank der Gewaltige tief in den Erdboden ein. Immer müder wurde er und sank alle hundert Jahre einen halben Zentimeter tiefer ein. Er wußte, daß es sein Schicksal war, zu versinken, unterzugehen. Es war das Schicksal alles Lebendigen. Er fügte sich drein. Nach einem hatte er sich immer heimlich gesehnt, daß man in kommenden Zeiten von ihm wissen möchte, daß Wesen da wären, die sich der Urkraft jener Zeiten erinnern könnten, die um ihn dahingerauscht waren. Gab es denn solche Wesen, die sein Dasein in sich aufzunehmen und zu bewahren vermochten? Die Tiere konnten es nicht. Sie waren nur Regung der Urnatur, die ihn umgab. So löschte sein Leben bis auf das letzte Glimmen seiner Augen langsam aus und wurde der stummen Erde immer vertrauter, die um ihn war.

Eines Tages erklang in den stillen Wäldern etwas, das dort nie gehört worden war. Es war der Klang von Äxten. Da erwachte er noch einmal und er sah lebendige Wesen, die nicht Tiere waren. Aufrecht gehende Zweibeiner waren es, ganz hell, mit Augen wie Quellgeblink und sonnigen Haaren. Und da wußte der Riese: Diese waren es, die sein Urwesen begreifen mußten, die fähig sein würden, von ihm zu zeugen. Dem Riesen fielen die Augen zu und taten sich nicht wieder auf. In sein vergehendes Herz war ein Bucheckerlein gesunken.

Diesem Sämlein gab der Riese seine ganze Kraft, die Wildheit seines Lebens, die Vollkommenheit seines Wuchses und seine herrliche Einsamkeit. Aus dem Sämlein wurde die Süntelbuche.


Wälder kommen und gehen. Menschengeschlechter kommen und gehen. Trugen die ersten Steinäxte, so brausen die letzten im Flugzeug hoch über Dachtelfeld und Süntelbuche durch die Luft. Steht aber einer vor dem Baume, der da einsam im Forst wächst, so rührt ihn aus dessen Erscheinung etwas an, das verborgen dahinter steht, etwas, das mächtiger ist als der mächtige Baum, etwas, das so vergangen wie ewig ist. Das ist die Urheit des Naturwesens, die der Mensch allmählich in Dämme geleitet hat, darinnen sie wächst und ihm nützlich wird. Und mitunter sehnt er sich nach dieser wilden Urheit. Träumend erahnt er sie, wenn er vor der Süntelbuche steht. Er weiß - das ist der Überrest des Einstigen. Und er schaut durch den Baum des Ur-Riesen, aus dessen Herzen die Buche emporgestiegen ist. Mensch sehnt sich aus der Verworrenheit seines Lebens nach der ungebrochenen Kraft der Natur, wie Natur sich nach dem Menschen gesehnt hat, um durch ihn sich ihrer bewußt zu werden. Mensch und Natur - das ist starke, spannende und ewige Polarität.

Einsam steht der Waldknorz auf dem Dachtelfelde. Der Frühling überrieselt ihn mit dem goldengrünen Getupf seines Knospenschleiers. Sommer verspinnt ihn schwer im eigenen Laube. Goldbraun naht ihm der Herbst und weiß der Winter. Am allerschönsten ist er und am eindringlichsten raunt er vom Geheimnis seines seltsamen Wuchses, wenn er kahl ist, wenn er die Runen seiner Urkraft in die graue Luft zeichnet, von der auch im Menschen immer noch ein Fünklein schlummert, dieses Fünklein, das den stärksten Antrieb seines Wesens gebildet hat, und nach dem er sich am meisten sehnt, wenn diesem Urfunken das Erlöschen droht.
Bernhard Flemes, 1934
(Dieser Text stammt aus der Literatursammlung von Otto von Blomberg, Auetal)
Vielen Dank für das Material an Ralf Schröder (www.suentelbuchen.de)

Erster Preis für Baumfoto an verstorbenen Nenndorfer

Schwester nimmt Prämie für Ralf Schröder an

Bad Nenndorf/Bad Münder (nah). Das Bild einer kahlen Süntelbuche im Garten des evangelischen Jugendheims in Bad Münder hat bei einem Fotowettbewerb des Naturschutzbunds Garbsen den ersten Preis errungen. Doch die damit verbundene Prämie erreichte den Einsender nicht mehr: Der Nenndorfer Ralf Schröder ist im vergangenen Jahr unter tragischen Umständen gestorben.

Der 42-Jährige hatte bundesweit Aufsehen mit seiner akribischen Sammlung von Informationen zur Süntelbuche erregt. Er hielt Kontakt mit Wissenschaftlern und Züchtern, mit Forstbeamten und vielen Menschen, die ihm mit Kenntnissen über seltene Baumexemplare weiterhelfen konnten. Auch sammelte er Fotos: Allein auf der Homepage www.suentelbuchen.de sind knapp hundert Bilder zu finden. Daneben finden sich Zitate aus Abhandlungen und weitere Literaturhinweise. Die bemerkenswerte Sammlung wird in der Fachwelt regelmäßig zitiert. Jetzt hat Schröder mit einem seiner Süntelbuchenbilder den ersten Preisunter mehr als 500 Einsendungen in dem vor einem Jahr gestarteten Wettbewerb gewonnen. Doch dieser konnte nur noch von Schwester Sigrid Tuchel entgegengenommen werden. Erst durch die Prämierung des Bildes wurde Schröders Tod in der Öffentlichkeit bekannt.

"Es kommt weiter Post für ihn", berichtet Mutter Margarete Schröder, die den Tod ihres Sohnes nicht überwinden kann. Über den Preis freut sie sich: "Dann erinnern sich die Menschen noch einmal daran, wie sehr er sich doch für seine Süntelbuchen eingesetzt hat." Inzwischen kümmert sich Sigrid Tuchel um die Korrespondenz - Schröders Engagement soll nicht vergebens gewesen sein.
Schaumburger Zeitung, 15.04.2006


Das Bild stammt aus dem Buch 'Das Weserbergland und der Teutoburger Wald' von O. Reißert (Verlag Velhagen und Klasing, Bielefeld 1909).


Der Baum (evt. Kreuzung zwischen Süntelbuche und normaler Rotbuche?) stand bis ca. 1990 an dem Feldweg von Langenfeld nach Rahden. An den Baum wurde eines Tages Feuer gelegt und ein großer Seitenast brach ab. Später ging der Baum ganz ein.

Vielen Dank für das Material an Christian Grubert!